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Der 6.Mai 2010

Es war ein Donnerstag. Ein Tag, wie jeder andere.Aber auch ein Tag, der mein Leben völlig veränderte und das keineswegs im positiven Sinne.
Du hast morgens wie gewohnt das Haus verlassen und kamst, wie gewohnt, mittags um zehn nach eins von der Schule zur Tür rein und ich hörte, wie gewohnt Deinen lauten Mp3-Player. 
Du gingst in Dein Zimmer, aber kamst nicht mehr zu mir, wie Du es sonst immer getan hast. Die Tür ging zu und ich hörte über längere Zeit Deine Musik aus Deinem Zimmer, aber Du kamst nicht zu mir.
Sonst kamst Du immer gern gleich zu mir und setztest Dich auf die Sofalehne und erzähltest mir das Neuste vom Tage oder fragtest nach Tommy, wo er sei. Diesmal nichts.
Ich merkte ja, dass Dich schon seit Montag  etwas beschäftigte, denn Du zetteltest ständig Diskussionen an, die zu nichts führten,warst respektlos und ich merkte daran, dass Dich etwas bedrückte, Dich etwas beschäftigte, aber Du wolltest nicht darüber reden. Nein, Du wolltest nicht mit mir reden und ich ließ Dir Deine Privatsphäre. Heute denke ich,ob es verkehrt war? Hätte ich Dir Löcher in den Bauch bohren sollen? Hätte ich Dir noch mehr auf den Wecker gehen sollen? Fragen, die unbeantwortet im Raum stehen bleiben.
 
Irgendwann um kurz nach drei hast Du die Wohnungstür von außen hinter Dir zugezogen und wir dachten- wie gewöhnlich- Dein Weg führt sicherlich in den Keller zum Wäsche waschen, denn das hast Du immer selbst gemacht. Nur kurze Zeit später haben Christian, Christopher und ich dann das Haus verlassen, denn Christian wollte noch mit dem Kleinen einkaufen gehen und ich hatte einen Termin beim Hautarzt.
Etwa zeitgleich um kurz nach fünf, am späten Nachmittag kamen wir nach Hause und wurden gleich überrannt von unserer Nachbarin, die erzählte, die Polizei wäre wegen meines Sohnes da gewesen und hätte ihr Fragen gestellt, wann zuletzt gesehen, was Du angehabt hättest.
Ich rief sofort bei der Polizeidienststelle an und die Polizisten kamen dann kurze Zeit später zu uns. Einer von beiden erzählte uns, Du hättest bei der Seite SchülerVZ  angekündigt:"wenn Ihr das hier lest, werde ich nicht mehr leben".Sally, Diana und Saskia nahmen Deine Worte als einzige ernst und alarmierten die Polizei und zum Glück handelten sie schnell.
 
Aber wir fühlten uns, wie vor den Kopf gestoßen. Ich rief sofort Deine Handynummer an, doch es ging nur deine Mailbox an und auch erst dann stellte ich fest, dass Du Dein Handy und Deinen Schlüssel Zuhause gelassen hattest, was Du sonst nie getan hast. Das machte mir große Angst und ich rief bei Konnie und Dirk an, die gerade gesellig bei Sybille und Udo saßen. Sie versuchte mich zu beruhigen, aber nach nur sehr kurzer Zeit mißlang es ihr schon, denn ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten, vor Panik und auch sie rief nur kurz und hysterisch"Scheiße!"ins Telefon. Denn auch sie war nun sehr besorgt.
Danach rief ich bei Deinem"Vater"an, erreichte aber auch nur seine Mailbox. Die Polizei durchsuchte Dein Zimmer. Sie fanden auf Deinem Schreibtisch eine To-do-Liste, auf die Du aufgeschrieben hattest, was Du nicht vergessen wolltest: Brieftasche, Mp3-Player,Abschiedsbrief für Mama...und ein Tagebuch, welches Du seit 2007 führtest und welches Du hineinschriebst, wenn es Dir ganz schlecht ging, mit dem Eintrag für Donnerstag:"tot".
Dann gab der eine Polizist einen Funkspruch an seinen Kollegen in der Zentrale durch, dass es sich doch um etwas Ernsteres handele. Das machte mir noch mehr Angst. Alles ging so schnell, alles war so chaotisch. Wir sollten Sachen von Dir heraussuchen, die Du getragen hast, Schlafzeug zusammensuchen, Zahnbürste wegen der DNA abgeben, denn an  dem Abend sollten noch zwei Leute mit Suchhunden kommen, die Deine Spur aufnehmen sollten, anhand Deiner Sachen, Deines Geruchs.
Ich habe am ganzen Körper gezittert vor Angst. Ein Polizist erzählte, dass sie von einem Mitschüler/ Mitschülerin, den Hinweis bekommen hatten, dass Du mal gesagt hättest,wenn Du Dein Leben beenden wolltest, dann würdest Du in den Wald in eine einsame Hütte gehen und Dir eine Tüte über den Kopf ziehen. Ich fühlte mich, wie in einem schlechten Film, der nicht enden wollte.
 
Dann sind die Polizisten erst einmal wieder gefahren und Christian fuhr mit Holger bei Regen und Dunkelheit mit Taschenlampen im Gepäck in Richtung Wald und suchten über zwei Stunden nach Dir, aber mußten irgendwann aufgeben, da sie nichts mehr sahen. Total durchnässt stand Christian dann irgendwann in der Küche, das Gesicht voller Verzweiflung und schüttelte nur mit dem Kopf. Ich brach in Tränen aus. Er fuhr dann aber noch einmal los und suchte an Bahnhöfen in der Nähe nach Dir, aber die Suche verlief ergebnislos. Mittlerweile waren an dem Abend schon vier oder fünf Kripobeamte bei uns in verschiedenen Abständen und nahmen Deine Personalien und eine Personenbeschreibung auf. Auch unterschrieb ich das Einverständnis, dass die Vermisstenmeldungen in den Medien erscheinen sollten. Radio, Internet, Nachrichten(Videotext). Ich wollte alles tun, wollte alles geben, nur um Dich wohlbehalten wieder bei mir zu haben. Aber auch die Suchhunde schlugen nur in einer Straße an, die zu Deinem täglichen Schulweg gehörte. Sie mußten die Suche dann doch um halb eins nachts, einstellen und dann begann für mich erst der richtige Horror. Ich war so erschöpft, mir war so kalt, ich habe gezittert vor Sorge, vor Angst und dieses Gefühl, dass etwas in meinem Leben ganz und gar nicht mehr stimmte, nahm überhand. Denn ich spürte, dass etwas passiert war. Du warst immer zuverlässig, hast mich angerufen, wenn Du unterwegs warst und es wurde später, warst immer pünktlich. Ich konnte mich auf Dich verlassen und Du konntest es nicht haben, wenn ich mir Sorgen machte. Aber Du riefst mich nicht an, von nirgendwo. Draußen war es dunkel, war es kalt und regnete und ich saß in der Küche und war nur am Ende mit meinen Nerven.
 
Christian versuchte mich zu beruhigen und meinte, es wäre schon nichts passiert, Du würdest sicher irgendwo bei Deinem Vater oder bei einem Kumpel sitzen und die Polizei würde Dich bestimmt finden, aber mein Gefühl sagte mir etwas ganz anderes.
Ich habe die Nacht nicht geschlafen, nur vor lauter Erschöpfung eine halbe Stunde gedöst, aber dann war ich plötzlich wieder ganz wach. Nicht so, wie ich morgens sonst wach werde, wie ein PC, der langsam hochfährt, sondern schlagartig wach und alles war plötzlich wieder da, der schlechte Film ging weiter. Ein Albtraum, aus dem man nicht erwacht und man hofft es doch so sehr.
 
Am Freitagmorgen setzten sie die Suche fort. Im Radio kam einmal die Stunde bei den Nachrichten eine Suchmeldung mit einer Personenbeschreibung und Deinem Namen. Über dem Haus kreiste ein Hubschrauber, Richtung Stadtforst und immer wieder zurück und vormittags kamen dann Konnie und Dirk aus Schleswig-Holstein, sie hatten alle Termine abgesagt und Uschi und Hartmut kamen und kümmerten sich um den Kleinen. Es kamen wieder Leute mit anderen Suchhunden, die Stundenlang mit ihnen die Straßen abliefen und dann Richtung Wald.
Währenddessen kam Dein Abschiedsbrief mit der Post, aber auch da habe ich noch immer nicht begriffen, was Sache war und noch immer habe ich Hoffnung gehabt. Hoffnung, Du hättest es Dir doch nicht zugetraut und vielleicht doch"nur"duchnässt und durchgefroren irgendwo sitzen würdest.
Aber nein. Um kurz nach vier, nachmittags, kamen zwei Kripobeamte, die uns baten, Platz zu nehmen. Sie hätten eine gute und eine schlechte Nachricht. Sie Hätten Dich gefunden, leider nicht mehr lebend. Die Suchhunde haben Dich gefunden. Du hattest Dir eine Stelle ausgesucht, an der niemand Dich so schnell hätte finden können. Im Wald hast Du gelegen, wohl schon über Nacht und bei Regen und Dunkelheit. Der Gedanke macht mich jetzt noch ganz fertig.
Keinen Kilometer von Zuhause entfernt und eigentlich sind auch bei der Suche Holger und Christian ganz in Deiner Nähe gewesen. Christian macht sich noch immer schlimme Vorwürfe, warum er Dich nicht finden konnte, wenn die beiden doch ganz in der Nähe Deines Fundorts waren.
Aber ich weiß nicht, was schlimmer gewesen wäre. Wenn er Dich leblos gefunden hätte, was wäre dann gewesen???
 
Wir machen uns Vorwürfe, ob wir wollen oder nicht, die Gedanken kommen hoch. Dennoch ist mir mittlerweile Dein Abschiedsbrief Gold wert, denn wo sich andere noch die Frage stellen"warum?", hast Du meine Fragen in Deinem Brief beantwortet und ich kann es nachvollziehen, was Dich tatsächlich so sehr quälte, auch wenn ich diesen Weg als Lösung niemals gewählt hätte. Natürlich habe auch ich in diesem Brief( ein wenig) mein Fett abbekommen, doch weiß ich nun, dass ich nicht der Grund war, weshalb Du so verzweifelt warst. Dein Brief begann mit"Liebe Mama"und endete mit"In Liebe Dennis".
Dafür tut es mir umso schlimmer weh, zu wissen, dass meine Liebe, die ich Dir all die Jahre gegeben habe, ja tatsächlich bei Dir ankam, aber die Frage, die mich quält ist, ob ich Dir vielleicht doch nicht genug davon gab? Warum konnte ich Dich nicht halten? Hast Dich mir nicht anvertraut? Wir haben über alles immer so wunderbar reden können. Wenn Du Probleme hattest, hast Du mich nach meiner Meinung und um Rat gefragt. Bei Deinem letzten Plan hast Du mich nicht mit einbezogen, hast mich nicht gefragt, bist einfach Deinen Weg gegangen. Vielleicht, weil Du genau wußtest, dass ich Dich aufhalten würde? Vielleicht, weil Du genau wußtest, dass ich es nicht geduldet hätte? Wolltest Du mir und Dir den Abschied leichter machen, indem Du Dich Donnerstag nicht mehr bei mir hast blicken lassen?
Ich könnte wohl noch stundenlang spekulieren, aber Dich wird es nicht zurückbringen. Du bist weg, für immer und es tut so weh. Nie wieder Deine Stimme hören, nie wieder mit Dir telefonieren, nie wieder Deine Musik aus Deinem Zimmer hören, nie wieder Dein Lachen hören, nie wieder Diskussionen mit Dir, nie wieder lange Gespräche über Gott und die Welt mit Dir, nie wieder der Geruch, Deines Deosprays, welches Du benutztest, bevor Du morgens aus dem Haus gingst. Nie wieder Zahnpastaspritzer morgens am Badezimmerspiegel, nie wieder Dein"Mama..."hören oder wenn ich Dir sagte, dass ich Dich lieb habe, ein"ich dich auch...".
Das alles macht mich unendlich traurig. Mein ganzes Leben hat sich seit diesem Tag verändert. Ich habe mich verändert. Ich fühle mich so leer und so einsam. Es können noch so viele Mensche um mich herum sein und dennoch....es ist, als ist etwas in mir gestorben. Meine Zuversicht, meine Hoffnung, meine Freude, mein Optimismus, alles hat es mit sich gerissen.
Die Welt dreht sich immer weiter und hat einfach vergessen, mich mitzunehmen. Menschen um mich herum lachen, sind fröhlich, sind unbeschwert und an manchen Tagen ist es kaum zu ertragen.
 
Ich war mal ein fröhlicher Mensch, der gern gelacht hat, optimistisch und aufgeschlossen war. Wenn ich jetzt in den Spiegel sehe, so sehe ich eine Frau, die innerhalb eines knappen halben Jahres um zehn Jahre gealtert ist. Ich bin ständig müde und erschöpft und habe Wehwechen, die ich vorher nie hatte.
Die Tage seit Deinem Tod sehen alle gleich aus. Morgens wird es hell und abends wird es dunkel und letztens habe ich eigentlich erst registriert, dass mittlerweile schon Herbst ist.
Ich versuche jeden Tag zu meistern, aber es fällt mir sehr schwer. Jeder Tag kostet mich so viel Kraft und Überwindung, mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.
Dein kleiner Bruder heitert mich immer etwas auf und erinnert mich ganz oft an die Zeit, wie Du in dem Alter warst, aber er wird Dich nunmal nie ersetzen können, genauso wenig, wie jemand von uns zu ersetzen ist.
Ich nehme schon jede Hilfe in Anspruch, alles, was mir guttut. Die Selbsthilfegruppe der Agus und in psychologische Behandlung habe ich mich begeben. Diese Homepage und ein Online-Kondolenzbuch habe ich für Dich angefertigt, um irgendwie, irgendwann mit meinem Schmerz, den ich in mir trage, besser leben zu können, alles ein wenig besser ertragen zu können. Ich hoffe, es wird eines Tages nicht mehr ganz so weh tun oder zumindest erträglich sein.
 
Ich möchte mich übrigens auch ganz lieb bei Conny Engeling und Petra Otte bedanken, dass Ihr mir so lieb beigestanden habt, bzw. beisteht und ich möchte hier auch betonen, dass es( leider) die einzigen Mütter sind, die sich nach Dennis' Tod bei mir gemeldet haben( Dennis hatte über 20 Mitschüler...nur mal so am Rande erwähnt). Ich danke Euch, dass Ihr den Mut habt, Eure Gefühle und Gedanken zu äußern.
 
Der 6.Mai 2010. Der Tag, an dem mein Sohn sich sein Leben nahm, sich seinen Frieden suchte und ihn für sich fand, aber auch einen Teil von mir mit sich nahm, auf die Reise ohne Wiederkehr.
(geschrieben Oktober 2010)